12. Das Leben

27. April 2020

„Sag mal Frido, du schaust doch jeden Abend die Nachrichten. Hat Angela Merkel eigentlich schon entschieden, wann die Schule wieder weitergeht? Ich vermisse die Kinder so sehr.“ „Da wirst du dich noch eine Weile gedulden müssen“, sagte Frido. „Am 4. Mai geht es erstmal nur mit den Viertklässlern weiter. Wann es für die Kinder unserer Klasse weitergeht, ist noch ungewiss.“ „Ach Mensch!“, fluchte Storchi. „Mir reicht es langsam! ich habe es satt, immer warten zu müssen. Und außerdem habe ich den Schnabel voll von dieser Ungewissheit. Alles ist auf einmal so unsicher und alle reden davon, dass nichts mehr so sein wird, wie vor Corona. Ich kann es nicht mehr hören!“ „Aber jetzt beruhige dich doch erstmal“, sagte Frido, während er Storchi ganz sanft über den Schnabel streichelte. „Natürlich wird das Leben nach Corona ein anderes sein, aber überleg doch mal – so viele Abenteuer, wie in der letzten Zeit, haben wir noch nie erlebt und ich hoffe, dass es auch nach Corona damit weitergehen wird. Das ist doch eine großartige Veränderung.“ Während Frido sprach, krümmte sich Storchis Schnabel leicht nach links. Das war ein Zeichen dafür, dass sie ganz angestrengt nachdachte: „Mmhhh, eigentlich hast du recht. So habe ich das noch nie gesehen.“ „Da bist du nicht die einzige“, sagte Frido. „Die meisten wollen, dass alles wieder genau so wird, wie vorher, aber das wäre gegen das LEBEN.“ Storchis Schnabel krümmte sich wieder nach links, diesmal sogar noch stärker als zuvor. „Das verstehe ich nicht, wieso gegen das Leben?” „Naja“, sagte Frido, „weil das Leben Veränderung ist. Ich will es dir erklären. Erinnerst du dich noch an die Zeit, als du kein Klassentier sein wolltest. Du wolltest unbedingt draußen in der Natur bleiben, weil du dich dort sicher fühltest. Nur dadurch, dass wir die Veränderung zuließen und Klassentiere wurden, konnten wir die vielen Abenteuer mit den Kindern erleben. Wenn wir auch die Veränderungen, die die Corona Zeit mit sich bringt, annehmen, können neue großartige Dinge geschehen, von denen wir noch nicht einmal die geringste Ahnung haben.“

Jetzt stand Storchis Schnabel ganz weit offen. Das war ein Zeichen dafür, dass sie aus dem Staunen nicht mehr herauskam. Frido begann zu schmunzeln und sprach weiter: „Auch wenn das Leben Veränderung ist, eines ist sicher – wir machen heute eine Wanderung.“ „Au jaaa“, jubelte Storchi, „das wird ein Abenteuer.“

Sie kramten ihre Wanderstöcke heraus und füllten ihren Rucksack mit Proviant: Haferkekse, Nüsse, belegte Brötchen, Wasser, Kaffee und eine Tafel Schokolade. Storchi schaute noch schnell im Wanderführer nach einer Route und schon konnte es losgehen.

Beim Wandern redeten die beiden meistens sehr wenig miteinander, stattdessen staunten sie über die wundervolle Natur. Diesmal kamen sie aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, denn sie begegneten drei Tierfamilien: Zuerst einer Fuchsfamilie, danach einer Rehfamilie und als sie durch den Wald wanderten, lief ihnen eine Wildschweinfamilie über den Weg. Hinter dem Wald lag ein großer See. Sie kamen dem See immer näher und konnten an dem Seil über dem See erkennen, dass es ein Wasserskisee war. „Schau mal Storchi“, rief Frido ganz aufgeregt, „wir sind seit Ewigkeiten kein Wasserski mehr gefahren.“ „Ja, das stimmt“, erwiderte Storchi, „aber ich denke nicht, dass die Wasserskibahn während der Corona Zeit geöffnet ist.“

Frido und Storchi gingen trotzdem zum Eingang und hatten großes Glück. Sie trafen auf den Besitzer der Wasserskianlage und er machte eine Flamingo-Storch-Corona-Ausnahme.

Beide schafften den Start direkt beim ersten Mal, ohne ins Wasser zu platschen und drehten viele Runden, Storchi auf ihren Skiern und Frido auf seinem Wakeboard. Das war so lange ein großer Spaß, bis Frido plötzlich ganz laut schrie: „Hilfe, hilfe!“ In diesem Moment drehte sich Storchi um und sah, wie er vom Board sprang und mit voller Wucht ins Wasser platschte. „Aua“, weinte Frido. Dann bewegte er sich ans Ufer und setzte sich auf sein Board. Plötzlich spürte er einen salzigen Geschmack auf seiner Zunge. Es war eine dicke Träne, die über seinen Schnabel rollte. In diesem Moment eilte auch schon Storchi herbei. Völlig aus der Puste rief sie: „Geht es dir gut?“ „Ja, mir ist nichts passiert“, sagte Frido, „aber ich bin so sauer auf die Entenfamilie. Immer müssen sie im Weg sein.“ Storchi sagte kein Wort, sondern nahm Frido in den Flügel und hielt ihn einfach nur fest. Dabei spürte Frido, wie der Geschmack auf seiner Zunge immer salziger wurde.

Als die beiden wieder Zuhause waren, sagte Storchi: „Du Frido, mir gehen die vielen Tierfamilien, die wir heute gesehen haben, nicht mehr aus dem Kopf.“ „Aber, aber“, begann Frido zu stottern, „meinst du etwa? Sind wir denn schon bereit für eine richtige eigene Familie?“ „Jetzt, da wir die Kinder in der Schule nicht mehr sehen, wird mein Wunsch immer größer“, sagte Storchi. „Ich könnte uns doch ein paar Eier legen.“ „Aber was wird dann aus unseren ganzen Abenteuern?“, fragte Frido ganz traurig. „Dafür haben wir dann keine Zeit mehr.“ „Das sehe ich anders“, entgegnete Storchi. „Es warten ganz neue und großartige Abenteuer auf uns, von denen wir noch nicht einmal die geringste Ahnung haben. Aber dafür müssen wir Veränderungen zulassen. Waren das nicht deine Worte?“

Am Abend saßen sie gemeinsam mit drei Eiern vor dem Kamin. Sie konnten es kaum erwarten, so groß war die Vorfreude auf die Veränderung –  auf das neue Leben.

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